Wettbewerb der Brutalitäten
Das, was sich in diesen Wochen an der Grenze zwischen Belarus und Polen abspielt, ist in seiner Brutalität so verstörend, dass ganz offenkundig berechtigte Schuldzuweisungen entlastend wirken: Die Regierung von Belarus erpresse die EU, indem sie flüchtende Menschen an die europäische Außengrenze schleust. Das unterstellte Kalkül: Die EU, die wegen anhaltender Menschenrechtsverletzungen Sanktionen gegen Belarus verhängt hat, schere sich selbst nicht um Menschenrechte, wenn es um die Aufrechterhaltung ihres Grenzregimes geht. Das Problem: Das trifft zu. Wir erleben, dass – keineswegs erstmalig, allein Ungarn hat 50.000 Flüchtlinge nach Serbien zurückgestoßen, nun aber auch in Polen – viele Konventionen, die zum Kernbestand des europäischen Menschrechtsverständnisses gelten, gebrochen werden, allen voran die Menschenrechts-, die Flüchtlings- und die Kinderrechtekonvention, auch die Grundrechte-Charta. Das genau wird auch der Grund sein, warum die polnische Regierung keine Beobachter in die Grenzregion lässt, noch nicht einmal die eigentlich zuständige Frontex, selbst immer wieder an illegalen Push-backs beteiligt. Man darf allerdings getrost unterstellen, dass sich europäische Behörden auch nicht gerade vordrängeln, denn polnische Polizei und Militär erledigen hier einen Job, wie ihn einzelne andere EU-Mitglieder immer wieder auch an ihren jeweiligen Außengrenzen vollzogen haben, mit stillschweigendem Einverständnis der meisten anderen EU-Mitglieder. Wenn jetzt ein führendes FDP-Mitglied anregt, die Schleusung von verzweifelten Flüchtlingen durch Belarus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit beim Internationalen Strafgerichtshof anzuzeigen, dann käme diese Anzeige neben sehr vielen anderen zu liegen, die vor allem NGOs gegen die EU wegen des Sterbenlassens von Flüchtlingen im Mittelmeer und unzulässiger Push-backs gestellt haben. Und wenn jetzt in der EU Stimmen laut werden, die das Geschehen an der Außengrenze als “hypriden Krieg” titulieren, ist das die Vorbereitung darauf, in solch einem Kriegsszenario auch noch die letzten verbliebenen Skrupel vor offenen Menschenrechtsverletzungen fahren zu lassen.
Daran wird vor allem eines deutlich: Das europäische Grenzregime steht in fundamentalem Widerspruch zu europäischem Recht. Und die Regierung von Belarus weist mit der ihr eigenen Skrupellosigkeit genau darauf hin: Die EU ist ganz offenkundig bereit, zur Verteidigung ihres Grenzregime alle Konventionen zu brechen, die eine humane Flüchtlings- und Asylpolitik gewährleisten sollten. So steht hier nicht Gut gegen Böse, sondern Brutalität gegen Brutalität. Unsere Aufgabe als EU-Bürger:innen ist es, Druck auf die deutsche Politik zu entfalten, damit diese Bereitschaft zu schlimmsten Rechtsbrüchen skandalisiert und eingedämmt wird.
PS. Ich bin in diesen Tagen auf zwei Interviews gestoßen, die ich auch in ihrer Unterschiedlichkeit zum Verständnis der Situation hilfreich finde: Ein Interview von Pro Asyl mit der polnischen Rechtsanwältin Marta Górczyńska und ein Interview des DLF mit dem Migrationsforscher Gerald Knaus.
Bildquellen
- barbed-wire-ga5cf2f680_1920: Michael Gaida by pixabay
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