Ein paar noch unsortierte Gedanken zum Krieg

Ein paar noch unsortierte Gedanken zum Krieg

Dass das erste Opfer im Krieg die Wahrheit ist, ist heutzutage eine immense Untertreibung. Es ist in unserer medial geprägten Welt kaum möglich, sich der Massivität der Bilder und der Fülle von Informationen über den Krieg zu entziehen. Insbesondere über die sozialen Medien ist es zwar möglich, Informationen von unterschiedlichen Seiten zu erhalten und manchmal sogar Informationen zu überprüfen. Dennoch bleiben alle Nachrichten unsicher und/oder vom Interesse an Manipulation geprägt. So wissen wir zu all dem, was für die Beurteilung der Situation und der Beteiligten hinsichtlich der Frage wirklich wichtig wäre, ob und ggf. wie der Krieg hätte vermieden werden können, insgesamt wenig und das auch nicht verlässlich. Das betrifft die Vorgeschichte im weiten Sinne, die Monate unmittelbar vor dem 24. Februar und auch die Ereignisse seitdem. Aus meiner Sicht kann man deshalb das Wissen um dieses Unwissen gar nicht ernst genug in alles Nachdenken über das gesamte Geschehen dieses Krieges einbeziehen.

 

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Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist eine Katastrophe. Das Elend, das in diesen Tagen kriegerisch herbeigeführt wird, macht wütend und im ersten Reflex hilflos zugleich. Man will helfen, dafür sorgen, dass es ein Ende hat. Gleichzeitig ist der Überfall russischer Truppen auf die Ukraine eine verstörende Erfahrung, auch in der Luxussituation derer, die in keiner Weise direkt davon betroffen sind, jedenfalls bislang nicht. Ich habe bis wenige Tage vor dem 24.2. nicht damit gerechnet, allem bescheidenen, aber illusionslosen Wissen um die russische Politik zum Trotz. In der „Hochzeit“ der Friedensbewegung der 80er Jahre habe ich den Teil der Aktivisten kritisiert, die die Angst vor einem Atomkrieg als Mobilisierungsinstrument einsetzte, auch weil ich nicht wirklich ernsthaft in Erwägung gezogen habe, dass die damaligen beiden Großmächte des Kalten Krieges es darauf ankommen lassen würden. Diese Gewissheit als Rahmenbedingung meines Denkens und Handelns habe ich im Moment nicht mehr. Wenn das nicht nur ein persönlicher Eindruck ist, dann unterscheidet das diesen Krieg von den vielen anderen der letzten Jahrzehnte, die ihm ansonsten weder in Brutalität noch in allem anderen, was Kriege ausmacht, nachstehen.

 

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Das macht die Rede von der „Zeitenwende“ auf den ersten Blick plausibel. Gefährlich an dieser Plausibilität aber ist, dass mit dieser Behauptung Beschlüsse gefasst und Ideen verbreitet werden, die als nahezu zwangsläufige Konsequenz ausgewiesen werden, nämlich die Lieferung von Waffen aus der  EU und Deutschland in die Ukraine und eine massive Aufrüstung hierzulande, dauerhaft und mit einer immensen Erstinvestition. Umso naheliegender Aufrüstung als Mittel gegen diesen Krieg behauptet wird, umso mehr müssen wir reflektieren, ob die Wege, die gerade gegangen werden, tatsächlich den Krieg einhegen und beenden oder ob damit nicht vielmehr der Weg in eine noch weitergehende Militarisierung der Welt beschritten und die nächsten Kriege vorbereitet werden. Warum überhaupt jetzt blindlings der Eile und Entschiedenheit derjenigen folgen, die gerade noch erklärten, sich fundamental geirrt zu haben und nun eine Zeitenwende proklamieren? Und warum immense Geldbeträge in eine Organisation stecken, die angeblich jährlich 50 Milliarden Euro versenkt? Man darf vermuten: Beide Bilder, die hier gepflegt werden, stimmen nicht, sondern bedienen nur ihren Zweck.

 

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Es ist ja keineswegs so, dass in diesen Wochen eine deutsche, europäische und westliche Politik vor die Wand gefahren ist, die von pazifistischen Grundsätzen getragen war und nun revidiert werden muss. Im Gegenteil: Die Politik Deutschlands, Europas und der USA war und ist wie die anderer Staaten auch auf Durchsetzung ihrer eigenen Interessen ausgerichtet. Wie anders ist denn ist es in diesem konkreten Fall zu verstehen, dass bis kurz vor dem 24.2. einerseits die deutschen Regierungen über Jahre beharrlich die Bitten und Warnungen insb. aus der Ukraine, aber auch vieler europäischer Staaten und der USA vor Northstream 2 ignorierten, während andererseits die USA die Ukraine über Jahre ganz offenkundig schon nach NATO-Standards ausrüsteten? Militärpolitik, zu der selbstverständlich auch Rüstungsexporte gehören – nach dem Sipri-Report von März 2021 ist Deutschland weltweit der viertgrößte Rüstungsexporteur –  , ist für die deutschen Regierungen (wie auch für die Regierungen der anderen Staaten) seit jeher integraler Bestandteil ihrer Außenpolitik. Die jeweilige Bevölkerung der anderen Länder ist der deutschen Politik (wie auch der Politik anderer Staaten) bei all dem nur in Ausnahmefällen im Blick und gegenüber den eigenen Interessen nachrangig, das gilt auch für die Ukraine.

 

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Wenn die Vermeidung von Kriegen Menschheitsaufgabe wäre, dann dokumentiert jeder einzelne Krieg ein erneutes und unentschuldbares Versagen. Das Eingeständnis eines solchen Versagens macht einen Blick auf die Vorkriegszeit notwendig. Auch die jetzige Vorkriegszeit begann nicht erst mit den Gesprächen an dem langen Tisch von Macron bis Scholz mit Putin. Konflikte, die kriegerisch weitergeführt werden, haben meist eine lange Vorgeschichte. Die Fragen nach der Rolle der NATO werden seit dem Ende der Ost-West-Konfrontation diskutiert.[i] Die NATO hätte abgeschafft werden können und müssen. Vor der „neuen NATO“, die zum „Instrument zur Durchsetzung westlicher Interessen“ umgerüstet wird, warnten seinerzeit viele, auch das Komitee für Grundrechte und Demokratie schon 1999[ii]. Im Jahr 2000 folgte die Warnung vor der Umrüstung der Bundeswehr zur Angriffsfähigkeit[iii].  Sie ist Teil unserer Geschichte, die seit dem vorgeblichen Ende der Ost-West-Konfrontation eine neue Dynamik gewonnen hat. Die Liste der seitdem geführten Kriege in der Welt ist lang, das damit erzeugte Elend erschütternd – von Irak bis zum ehemaligen Jugoslawien, von Tschetschenien bis Afghanistan. Gewalt gebiert Gewalt.

 

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Die Rosa Luxemburg-Stiftung veröffentlichte eine Kritik eines russischen, sich der Linken zurechnenden Anthropologen an die deutsche Linke: Sie verkenne in ihrer historisch nachvollziehbaren Fixierung auf die USA und die NATO, dass in diesem Konflikt beide und auch nicht die EU die wesentlichen Akteure seien. Dieser Krieg gehe in seinen Ursachen nicht vom Verhalten westlicher Staaten aus. Um Russland herum erwachse eine neue Realität, die ihren eigenen Gesetzen folgt und eine zerstörerische Realität brutaler Unterdrückung schafft. [iv]

 

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Im Krieg gibt es nur noch Freund oder Feind, gut oder böse, man hat auf der richtigen Seite zu stehen, denn die auf der falschen Seite tragen die Verantwortung für alles Leid und Elend. In diesem Fall scheinen Gut und Böse einfach zu unterscheiden zu sein:  Russland destabilisiert seit Jahren die Ukraine und auf Putins Befehl hin führt die russische Armee nun einen offenen Krieg gegen diesen Staat. So verständlich es ist, dass sich die Ukraine gegen den Angriff zur Wehr setzt und sich an diesem Punkt moralisierende Einwürfe von der Seitenlinie verbietet, so notwendig halte ich ein eigenes, ebenfalls nicht moralisierendes Nachdenken darüber, ob eine militärische Unterstützung des Widerstands richtig ist. Selbstverständlich haben diejenigen, die angegriffen werden, ein Selbstverteidigungsrecht. Ob dieses notwendigerweise militärisch sein muss, muss und kann gefragt werden. Der Bund für soziale Verteidigung (BSV [v]) macht zurecht darauf aufmerksam, dass es zivilen Widerstand gibt, der erfolgreich sein kann. Aber auch ein solcher Widerstand braucht Unterstützung und muss vorbereitet werden. Eine militärische Verteidigung geht immer mit dem hohen Risiko eine Zerstörung alles dessen einher, was verteidigt werden soll. In dieser Perspektive werden die Waffen, die nun von vielen Staaten, nicht zuletzt von Deutschland, geliefert werden, zur Verlängerung des Krieges, zur Erweiterung der Angriffe der russischen Armee und zu noch mehr Toten und viel mehr Zerstörung und Elend führen. Zudem: Die Geschichte ist voll der Lehre, dass die Waffen nach Ende des Krieges weitergebraucht werden, der Zivilisationsbruch eines jeden Krieges überdauert das unmittelbare kriegerische Geschehen. Die Bewaffnung der Zivilbevölkerung, das Entstehen von Söldnertruppen sind mehr als deutliche Zeichen dafür. Und die wenigsten der Waffenlieferanten denken bei all dem an den Schutz der Bevölkerung, sondern an ihre eigenen Interessen, in diesem Fall eine nachhaltige Schwächung Russlands oder dass dieser Krieg auf diese Weise „ausbluten“ möge, damit beide Seiten zu Verhandlungen bereit sind. Dass die Waffenlieferungen öffentlich gern mit der „Tapferkeit“ der ukrainischen Bevölkerung in Verbindung gebracht werden, ist wohlfeil und zynisch.

 

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Das lässt mich auch nachdenklich werden, wenn jetzt an allen Orten die Nationalfarben der Ukraine aufgezogen werden. Es ist so einfach, sich an der Außenlinie auf die Seite der vermeintlich Richtigen zu stellen. Wenn der Hamburger Verkehrsverbund seine App in den Nationalfarben der Ukraine gestaltet und die elektronischen Anzeigen „Stoppt den Krieg“ melden, wenn die Peace-Zeichen auf den Demonstrationen mit Zustimmung zu Aus- und Aufrüstung einhergehen, wenn das in den lokalen Leitmedien stolz als „Haltung“ ausgewiesen wird, dann ist die Gefahr groß, dass das aus meiner Sicht Entscheidende ausgeblendet wird, nämlich die Frage, ob im Windschatten der Empörung gegen diesen Krieg nicht schon die Bereitschaft für die nächste Eskalationsstufe angelegt wird.

 

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Stimmen, die diese Frage reflektieren und zu Besonnenheit mahnen, finden sich in diesen Tagen v. a. in den Kulturteilen der Redaktionen, weniger in den Leitartikeln. In einem Interview der ZEIT verweist Alexander Kluge auf zweierlei[vi]. Erstens: Krieg ist ein „Monster“, nicht beherrschbar, mutativ begabt wie ein Virus, ein „wahres Chamäleon“. Deshalb kann man im Krieg nicht entscheiden, sondern nur verhandeln. Und zweitens: Es gibt keine Übersichtsposition, aus der heraus das Geschehen mit richterlichem Gestus und einer Politik der Selbstgewissheit beurteilt und beeinflusst werden kann. Nur wenn das verstanden sei, ließe sich überhaupt der Punkt ausmachen und finden, in dem eine Verständigung unter Feinden möglich sein kann. Es geht also um das Finden dieses „Möglichkeitsraums“ für einen Waffenstillstand, also um einen Ausweg aus dem Kriegsnarrativ. Gerade weil Krieg total ist, gibt es dazu keine Alternative. Wenn das richtig ist, ist ein Mehr an Waffen genau das Falsche.

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Kaum sprechen die Waffen, wird der Pazifismus für die alltäglich werdenden Morde verantwortlich gemacht, in oft hämischer Weise, wie auch jetzt wieder zu lesen ist. Dieser würde immer versagen und wäre letztlich verantwortlich für den Krieg. Aber diejenigen, die sich aufgrund deutscher Geschichte als gelernte, nun aber geläuterte Pazifisten bezeichnen, sind allzu oft diejenigen, die immer schon auf Durchsetzung der eigenen Interessen gesetzt haben, auch mit Mitteln, die den Krieg mit vorbereiten. Der Pazifismus, der aktiv und eingreifend für den Ausgleich von Interessen sorgt, der vom Schutz der Menschenrechte aller Menschen ausgeht, hat nie eine Chance gehabt, die Welt-Macht-Politik (mit) zu bestimmen. Vor diesem Hintergrund ist der jetzt mit selten dagewesener Eile zu hörende Ruf nach einer Revision der Friedensethik (so in den beiden christlichen Kirchen) und des Konzepts nicht-militärischer Sicherheitspolitik (Die Grünen), dazu angetan, ein Nachdenken über die Überwindung von Krieg zu unterminieren.

Die Herausforderungen, diese Welt bewohnbar zu erhalten, sind riesig. Das kann nur gelingen, wenn sich die herrschende Politik von der Konfrontation, der Durchsetzung der je eigenen Interessen und von der konkurrenzgetriebenen Dynamik verabschiedet und zu den Ideen des Ausgleichs von Interessen, zu Verhandlungen und respektvollem Umgang miteinander übergeht. In dieser vernetzten, globalisierten Welt kann Krieg nicht mehr das letzte Mittel sein. Zivile Konfliktbearbeitung muss endlich als einziger Weg wahrgenommen und gelernt werden.

 

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Was kann aktuell getan werden?  Allen Flüchtlingen aus den betroffenen Kriegsregionen soll unterschiedslos Asyl gewährt werden. Auch allen Deserteuren, egal aus welchem Land, ist Asyl zu gewähren. Weitestmöglich muss humanitäre Hilfe geleistet werden.  Die demokratische, an Menschenrechten orientierte Kritik in Russland ist zu unterstützen.  Die Ukraine sollte auch den Männern die Wahl lassen und ihnen die Flucht ermöglichen. Auch ihnen ist dann Asyl zu gewähren, kein Staat hat das Recht, Menschen in den Krieg zu zwingen. Dort, wo es gewünscht und möglich ist, sollte der zivile Widerstand unterstützt werden.

 

Theo Christiansen   /   13.03.2022

 

Dieser Text ist auch als pdf abrufbar.

 

 

 

 

[i] So z. B. aus der Dlf Audiothek „Die Wurzeln des Misstrauens – Russland und die Verhandlungen zur Deutschen Einheit 1990“ https://srv.deutschlandradio.de/dlf-audiothek-audio-teilen.3265.de.html?mdm:audio_id=dira_DLF_fde8b186

[ii] https://www.grundrechtekomitee.de/publikation/die-neue-nato-instrument-zur-durchsetzung-westlicher-interessen

[iii] https://www.grundrechtekomitee.de/publikation/die-neue-bundeswehr-umruestung-zur-angriffsfaehigkeit

[iv]  https://www.rosalux.de/news/id/46080

[v] https://www.soziale-verteidigung.de/

[vi] https://www.zeit.de/zustimmung?url=https%3A%2F%2Fwww.zeit.de%2Fkultur%2Fliteratur%2F2022-03%2Falexander-kluge-krieg-ukraine-europa-frieden

 

Bildquellen

  • nati-melnychuk-HsjCBHjQROM-unsplash: Photo by Nati Melnychuk on Unsplash

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1 Comment

  1. Danke für deine Überlegungen. Als ergänzender Hinweis: In der aktuellen Ausgabe der New York Review of Books findet sich eine differenzierte Analyse dazu, wie die Hardliner der US Außenpolitik sich auf eine vermeintlich unvermeidbare Konfrontation mit China vorbereiten. Aufgezeigt werden aber auch Positionen, die für eine Politik der Einhegung durch wechselseitige Anerkennung von Interessen plädieren.

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