Martin Luther dürfte sich freuen: Seine Wittenberger verteidigen standhaft ihre „Judensau“
Die Lutherstadt Wittenberg ist einerseits baulich und mental trotz ihres eigenen ICE-Halts eine kleine Provinzstadt. Sie ist aber andererseits das „Rom“, das religiöse Zentrum der lutherischen Kirchen in Deutschland und weltweit. Denn die Stadtkirche in Wittenberg war die Predigtkirche von Martin Luther, und wurde dadurch zum evangelischen „Petersdom“, also Pilgerziel, Kundgebungsort, Devotionalien-Handel rundherum, bis heute als „Mutterkirche der Reformation“ auch gern von Bischöfinnen und Bischöfen und Politikern für Predigt-Auftritte genutzt. Doch die Stadtkirche hat einen bösen Makel: An ihrer Außenwand propagiert eine Skulptur mit einer Sau, an der sich jüdische Kinder nähren und ein Rabbiner obszön betätigt, einen abgrundtiefen Hass gegen jüdische Menschen und ihren Gott. Theologisch geadelt wurde diese „Judensau“ durch Martin Luther himself. Und noch rechtzeitig zum großen Reformationsjubiläum 2017 wurde dieses Relief mit staatlichen und kirchlichen Geldern renoviert und das darüber eingefügte Luther-Zitat vergoldet.
Doch seit 2017 gab es auch zunehmend Protest gegen diese Schmähplastik, auf den Weg gebracht von einer Online-Petition des Londoner Theologen mit jüdischer Herkunft Richard Harvey. Große Beachtung fand zuletzt der Prozess von Michel Düllmann mit dem Ziel der Abnahme der Wittenberger Sau, der allerdings durch drei Instanzen erfolglos blieb. Die öffentliche Aufmerksamkeit hatte aber immerhin zur Folge, dass sich der verantwortliche Gemeindekirchenrat als Eigentümer der steinernen Sau, wenn auch widerwillig, mit dem Thema beschäftigen musste. Hinzu kam der kircheninterne Druck aus der EKD (Evangelischen Kirche in Deutschland), der die ganze Debatte langsam unangenehm wurde. Ein daraufhin vom Gemeindekirchenrat selbst eingesetztes Expertengremium kam zu der Empfehlung, die Sau abzunehmen und an einem anderen Ort und kritisch kontextualisiert zugänglich zu machen. Das hatte man in Wittenberg nicht erwartet. Wenige Tage vor dem Reformationstag beschloss der Gemeindekirchenrat einmütig: „Die als „Judensau“ bekannte mittelalterliche Schmähplastik an der Fassade der evangelischen Stadtkirche Wittenberg wird nicht entfernt.“ Ebenso standhaft wie blind folgen die Wittenberger LutheranerInnen ihrem populären Ortsheiligen: Hier stehen wir, wir können nicht anders. Bemerkenswert ist auch, dass sich der ansonsten an kirchlichen Dingen wenig interessierte Stadtrat mit all seinen Fraktionen, vorneweg die AFD und Die Linke inklusive, hinter die Gemeinde gestellt hat. Die „Judensau“ stiftet Volksgemeinschaft.
Dabei wird auch in Wittenberg keineswegs bestritten, dass das Kirchensau-Relief widerwärtig und antijüdisch ist, „in Stein geschlagener Antisemitismus“, wie auch das Bundesverfassungsgericht feststellte. Warum aber, in drei Teufels Namen, will man es dann an der Kirchenwand belassen?
Als Rechtfertigung für das Festhalten am Schmährelief verweist die Gemeinde auf ein „Mahnmal“[1], dass in der Größe eines Gullydeckels unterhalb der „Judensau“ eingelassen ist, und war damit auch bei drei deutschen Gerichten bis hin zum BGH erfolgreich. Das ist fahrlässig und zynisch, denn auf dieser Bodenplatte befindet sich neben einem vieldeutigen Kreuzes-Symbol ein auf Hebräisch formuliertes, also direkt an jüdische Menschen gerichtetes Zitat aus dem Psalm 130, der in seiner Anrufung Gottes die Sünden des Beters bekennt. Auschwitz kann so nur verstanden werden als Folge der Sünden des jüdischen Volkes. Dass die Juden selbst schuld sind an allem, was ihnen an Bösartigkeit und Verfolgung widerfährt, gehört zu den Standards antisemitischer Einstellungen.
Gleichzeitig verbreitet die über Wittenbergs Stadtgrenzen hinaus bekannte und in der Gemeinde einflussreiche Kunsthistorikerin Insa-Christiane Hennen die irre These, dass die Schmähplastik keinen antisemitischen Hintergrund haben könne, weil es im Mittelalter und bei Martin Luther noch gar keinen Antisemitismus gegeben hätte. Sie könne zwar verstehen, ,,dass sich jemand durch ein Objekt, das andere Menschen aus welchen Gründen auch immer angebracht haben, beleidigt fühlen kann“, stellt aber „sehr in Frage, ob das in diesem Fall sinnvoll ist“[2]. Tja, liebe Juden, ihr dürft zwar beleidigt sein, aber sinnvoll ist das nun wirklich nicht. Zudem sei das Spottbild anfänglich nur „als ein Appell gemeint, sich von fremden Bräuchen fernzuhalten, also bitte nicht zum Judentum überzutreten. Aber es war ein Appell an die christliche Gemeinde“, eher unsichtbar für die Wittenberger Juden und zur moralischen Aufrüstung der eigenen Gemeinde geschaffen. Da darf man schon, so die Logik der Kunsthistorikerin, die Juden als Schweine-Kinder und den im Judentum geheiligten Gottesnamen als Scheiße darstellen. Alles kein Antisemitismus?
Was also nun? Blamiert hat sich erst einmal die EKD (Evangelische Kirche in Deutschland), die sich mit großem Einsatz um eine Verhaltensänderung ihrer Wittenberger Gemeinde bemüht hat.
In der evangelischen Kirche gebe es keinen Platz für Antisemitismus, heißt es gern und oft. Das ist Schönrednerei, denn einen prominenteren Platz für hasserfüllte Judenfeindschaft als an der Geburtskirche des Lutherturms kann es gar nicht geben. Wie wäre es also, wenn sich einige lutherische Bischöfinnen und Bischöfe und der Rat der EKD einmal an die Stadtkirche begeben würden, um dort handfest ihren Worten Glaubwürdigkeit zu verleihen?
Und wie wäre es, wenn die evangelischen Kirchen sich dafür einsetzen würden, den staatlichen Feiertag zu Luthers Thesenanschlag wieder aufzugeben und stattdessen den jüdischen Gemeinschaften in Deutschland die Wahl zu lassen, welcher ihrer Feiertage zu einem staatlichen Feiertag gemacht werden sollte? Und wie wäre es – nicht nur ganz nebenbei – , wenn mindestens einer der zweiten Feiertage zu Weihnachten, Ostern und Pfingsten aufgegeben würde zugunsten eines muslimischen Feiertages? Nicht als Zeichen überheblicher religiöser Toleranz, sondern als Ausdruck von Respekt und Gleichberechtigung.
Ja, wie wäre es? Da solche frommen Wünsche erfahrungsgemäß in der Kirche keine Resonanz finden, legt sich eine ganz andere, real-zynische Perspektive nahe:
Nicht mehr nur die Schmähplastik an der Außenwand der Kirche, sondern die ganze Stadtkirche mit ihrem Vorstand und ihren Pastoren legen dauerhaft ein lebendiges Zeugnis dafür ab, dass Judenfeindschaft und Antisemitismus trotz aller gegenteiligen Bekundungen fortwirken. Das Weltkulturerbe Stadtkirche St. Marien Wittenberg wird jetzt weltweit berühmt als Weltkulturerbe für deutsch-kirchlichen Antisemitismus vom Mittelalter über Martin Luther bis heute.
[1] https://linksabbieger.net/2020/03/24/den-judenhass-verhuellen/
[2] https://www.ndr.de/kultur/Wittenberger-Schweinerelief-Kein-antisemitischer-Hintergrund,relief102.html
02.11.2022 – Ikonoklasmus kann emanzipatorisch sein
Der hannoversche Landesbischof Ralf Meister hat sich für die Entfernung und Zerstörung der “Judensau” an der Fassade der evangelischen Stadtkirche Wittenberg ausgesprochen. “Man sollte sie nicht nur entfernen, sondern radikal vernichten, zerstören und kaputt machen”, sagte Meister am Sonntagabend in der Marktkirche in Hannover. Dies sei der richtige Umgang mit einer fehlgeleiteten, vernichtenden Ästhetik.
Ralf Meister hat recht. Anders als ich es noch 2016 meinte, als ich das Thema zum ersten Mal im Magazin für Theologie und Ästhetik erörterte, reicht es nicht, die schreckliche Plastik an der Wittenberger Stadtkirche nur zu ent¬fernen und sie in ein Museum zu stellen. Sie muss zerstört werden. Das macht aber nur Sinn, wenn dieser ikonoklastische Akt, dieser Bildersturm, der er ja nun einmal ist, als solcher bewusst geschieht und auch im Bewusstsein gehalten wird. So wie der reformatorische und vor allem der reformierte Bildersturm sich im Bewusstsein erhalten hat (leider etwas anders, als es die Initiatoren beabsichtigt hatten). Wir müssen uns in ebenso symbolischen wie archaischen Gesten (und das ist ein solcher Bildersturm) von einer Ausdrucksform lösen, die böse bis in das letzte Element ist. Es geht dabei überhaupt nicht darum, den christlichen Antijudaismus und den protestantischen Antisemitismus aus dem Gedächtnis zu löschen, sondern ganz im Gegenteil, durch einen ikonoklastischen Akt im Gedächtnis zu verankern. Der byzantinische Bilderstreit, der reformatorische Bilderstreit sind Belege dafür, dass das gelingen kann. Die Konsensgesellschaft sucht nach moderaten Lösungen, die niemandem wehtun, aber letztlich die Beleidigten permanent weiter verletzen. Wenn wir die Skulptur in Wittenberg als wirkmächtig ansehen, dann müssen wir dem auch begegnen. Natürlich verhindert man keinen Antisemitismus, indem man eine antisemitische Skulptur zerstört. Aber man schafft einen ikonischen Akt, der zeigt, dass der Judenhass ein zu bekämpfendes Element unserer Gesellschaft ist. Und das erreicht man nicht, indem man freundlich oder meinetwegen auch betroffen mit einer Texttafel erklärt, wie es den bedauerlicherweise zu 6 Millionen toten Juden gekommen ist, wozu dieses Objekt seit 800 Jahren seinen Beitrag geleistet hat.
Für die Beibehaltung des Objekts spräche, wenn man der Meinung wäre, dass der Antijudaismus weiter tief in der lutherischen Kirche verwurzelt wäre, wenn also die Entfernung der Skulptur einen identitätspolitischen Schaden bei der Gemeinde anrichten würde. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es genau darum geht: deutlich zu machen, dass die Abkehr vom Judentum zur eigenen Identität gehört. Und das nicht nur historisch.
Das andere ist, dass das Prozedere ja merkwürdig ist. Der Beleidigende entscheidet darüber, ob die Beleidigung an seinem Gebäude hängend bleibt, während nicht auf die die beleidigten Juden in Deutschland (und das sind nicht irgendwelche Wissenschaftler in Israel) gehört wird.
https://www.theomag.de/140/theomagblog140.htm#_beati
Mit Dank an Andreas Mertin für seine Zustimmung zur Veröffentlichung in unserem Blog.