Daten, Daten, Daten – wir wollen sie alle haben *)

Daten, Daten, Daten – wir wollen sie alle haben *)

Die gegenwärtigen pandemischen Verhältnisse machen deutlich, wie sehr diese Gesellschaft auf Solidarität angewiesen ist. Das spiegelt sich auch im gesellschaftlichen Diskurs in der Bereitschaft, das Kollektiv stärker in den Vordergrund zu stellen: Die pandemiebedingten Einschränkungen der Freiheitsrechte aller sind notwendig, um jeweils sich selbst, aber auch um alle anderen vor den Gesundheitsgefährdungen zu schützen. Impfungen sollen sowohl die Geimpften schützen als auch eine Herdenimmunität herstellen, die dann alle schützt. 

Diese gegenwärtigen Entwicklungen aber dazu zu nutzen, die grundrechtliche Wertewelt auf den Kopf zu stellen, ist arglistig. Ein aktuelles Beispiel für diese Arglist zeigt sich in dem am 24.März 2021 vorgelegten Gutachten „Digitalisierung für Gesundheit: Ziele und Rahmenbedingungen eines dynamisch lernenden Gesundheitssystems“. Verantwortlich ist der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen.  In einem Interview des Deutschlandfunks machte dessen Vorsitzender, Ferdinand Gerlach, deutlich, um was es ihm geht: Der Datenschutz in Deutschland stünde einer besseren medizinischen Versorgung im Wege.

Demgegenüber stellte nur einen Tag später, also am 25. März 2021, der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit seinen 29. Tätigkeitsbericht vor. Darin kritisiert er die Sorglosigkeit in Bezug auf den Datenschutz sowohl bei den Gesetzen zu Corona-Maßnahmen als auch bei der Ausgestaltung der elektronischen Patientenakte (ePA).

In dieser Auseinandersetzung geht es nicht um Kleinigkeiten, sondern um die Frage, ob im Zuge der Pandemie Datenschutz zum verzichtbaren Luxusgut erklärt werden darf. Es geht also um ein Grundrecht, das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, für das und gegen das gekämpft wird. Steht der Datenschutz tatsächlich einer Modernisierung der Gesundheitsversorgung, einer Verbesserung der medizinischen Behandlung, im Wege? Das Gutachten des Sachverständigenrats selbst macht deutlich, dass den Autor:innen die paradigmatische Dimension dieser sehr grundlegenden Fragen der Gestaltung der Gesellschaft und der Achtung des Individuums bewusst ist, dass es ihnen also ganz offenkundig um die Veränderung des Wertekanons geht.

Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung

Zu den grundlegenden Normen der deutschen Verfassung gehört der Respekt gegenüber dem Individuum, dessen Grundrechte vom Staat anerkannt und geschützt werden (sollen). Die Grundrechte sind zunächst und vor allem Abwehrrechte gegenüber dem Staat. Das Grundrecht auf „informationelle Selbstbestimmung“ hat das Bundesverfassungsgericht 1983 (Volkszählungsentscheid) aus dem Persönlichkeitsrecht (Art. 2 GG) in Verbindung mit Art. 1 GG, der unantastbaren Würde des Menschen, jedes Menschen, abgeleitet.

Der Sachverständigenrat bemängelt nun, dass der Datenschutz zu sehr die Individuen schützt und in den Mittelpunkt stellt. „Es gilt, Datenschutz im Gesundheitswesen  als  Teil  von  Lebens-  und  Gesundheitsschutz  auszugestalten,  nicht  als  deren Gegenteil.“ Unterstellt wird indirekt, dass der Datenschutzbeauftrage das Gegenteil tut. Behauptet wird, die „alte Maxime der unbedingten Datensparsamkeit und strengen Zweckbindung“ sei von der Realität überholt worden. Stattdessen müsste das Wohl der Gemeinschaft stärker in den Vordergrund gerückt werden. Gesundheitsdaten aller Einzelnen würden, wenn sie denn möglichst reibungslos der Forschung und der Gesundheitsverwaltung zur Verfügung stünden, dem Wohl aller dienen.

Die Abwägung der Sachverständigen sieht dann letztlich nur eine Datensicherheit im Rahmen der Möglichkeiten und ohne Hürden für die Nutzung vor. „Zweifelsohne  muss  die  Nutzung  der  Daten  rechtlich  und  technisch  bestmöglich  gegen Missbrauch  gesichert  sein. Diskriminierung  und  Benachteiligung  sowie  eine  unautorisierte Repersonalisierung müssen  mit  empfindlichen  Strafen  geahndet  werden. Sofern  diese Voraussetzungen erfüllt sind, hält der Rat es in einer Solidargemeinschaft von Versicherten sogar für geboten,  Daten,  die  durch  solidarisch  finanzierte  Gesundheitsversorgung  zustande  kommen, zugunsten des Wohls aller Patientinnen und Patienten, der aktuellen wie der zukünftigen, zu teilen. Datenschutz geht so einher mit Patientenschutz: Patientinnen und Patienten haben ein Anrecht darauf, dass ihre Daten in der für sie (und andere) hilfreichsten Weise ausgewertet und genutzt werden.

Es wird deutlich: Von der Pflicht der Ärzt:innen, zum Wohle des Patienten zu entscheiden und zu handeln, wird klammheimlich übergegangen zur Pflicht, zum Wohle der Patienten, also nicht jedes einzelnen Individuums, sondern der Gesamtheit der Patienten, zu handeln. Schon in der Einleitung des Gutachtens wird das offen so formuliert: „Zweck von Gesundheitspolitik und Gesundheitsversorgung ist das „Patientenwohl“ – in einer ersten Annäherung verstanden als das Wohl aller aktuellen und aller zukünftigen Patientinnen und Patienten.

Wie eingangs erwähnt, machen die gegenwärtigen Verhältnisse deutlich, wie sehr diese Gesellschaft auf Solidarität angewiesen ist. Staatlich organisierte Solidarität ist jedoch institutionelle Solidarität, wie sie im Sozialstaat ihre Ausprägung findet. Es geht darum, infrastrukturelle Vorkehrungen zu schaffen, damit Grund- und Menschenrechte der Chance nach für alle verwirklichbar sind. Strukturbedingte Ungleichheiten sollen (ein wenig) ausgeglichen werden. Dies geschieht – das macht die Pandemie höchst anschaulich – viel zu wenig. Individuelle Solidarität kann demgegenüber nur freiwillig und in Abwägung mit den je eigenen Interessen geleistet werden. Hier ist Solidarität zudem eher ein Zusammenschluss derjenigen mit gemeinsamen Interessen und richtet sich gegen eine Herrschaft.[1]

Gutachten offenbart instrumentelles Verhältnis zu Menschen

Diese Verkehrung der Wertsetzungen offenbart ein instrumentelles Verhältnis zu den Menschen. Sie werden als Datenlieferanten statt als Menschen mit Menschenrechten verstanden. In orwellscher Manier werden im Gutachten die Tatsachen verdreht und der Datenschutz auf den Kopf gestellt: „Ein verantwortlicher Umgang mit Gesundheitsdaten beinhaltet ein ganzheitliches  Verständnis  des  Datenschutzes:  nicht  nur  als  Abwehrrecht,  sondern  als  Teil  des Patientenschutzes.“ Letztlich wird der gläserne Bürgerpatient angestrebt, dessen Gesundheits- und Behandlungsdaten, die eine Menge über Lebens- und Verhaltensweisen aussagen, den staatlichen Erfordernissen zur Verfügung stehen müssen. Explizit wird der Solidarität „eine reziproke  Verantwortung  des  Individuums“ gegenübergestellt,  solidarisch zu sein, „indem  es  seine  –  dann  unter  starken  Schutzgarantien pseudonym  auswertbaren  –  Gesundheitsdaten  zur  Verfügung  stellt: Der  Grundsatz  ,Daten teilen – besser  heilen‘  sollte  zumindest  für  Gesundheitsdaten  Anwendung  finden,  deren Zustandekommen  solidarisch  finanziert  wurde,  wie  etwa  die  Behandlungsdaten  aus  aufwendigen Krebstherapien.“

Dem entgegen hat das Bundesverfassungsgericht bereits 1983 in dem sogenannten Volkszählungsentscheid die Bedeutung der freien Entscheidung hervorgehoben.

„Individuelle Selbstbestimmung setzt aber – auch unter den Bedingungen moderner Informationsverarbeitungstechnologien – voraus, daß dem Einzelnen Entscheidungsfreiheit über vorzunehmende oder zu unterlassende Handlungen einschließlich der Möglichkeit gegeben ist, sich auch entsprechend dieser Entscheidung tatsächlich zu verhalten. Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffende Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden. Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß.“

Zwar wird im Gutachten betont, dass es um besonders sensible Daten geht, zugleich wird aber gefordert, dass diese selbstverständlich allen „Leistungserbringern“ zur Verfügung stehen sollten. Bedacht wird nicht, dass dies auch zu einem fundamentalen Bruch im ärztlichen Vertrauensverhältnis führen kann. Wenn das, was dem Hausarzt anvertraut würde, dann auch jeder andere Arzt einsehen kann, werden sich Patient:innen überlegen, was sie mitteilen oder auch welche Untersuchungen sie machen lassen.

Eine höchstmögliche Datensicherheit soll gewährleistet werden, der Grenzen ist man sich noch einigermaßen bewusst, aber die Folgen von Datenlecks und unberechtigten Zugriffen werden nicht annähernd angemessen berücksichtigt. Einmal öffentlich gewordene Gesundheitsdaten können nicht zurückgeholt werden und können lebenslang Folgen für die Betroffenen haben.

Vorausgesetzt wird, dass jedwede medizinische Forschung im Interesse aller ist und folglich förderungswürdig. Tatsächlich aber ist medizinische Forschung selbstverständlich hoch umstritten. Bürger:innen müssen das Recht haben, selbst zu entscheiden, welcher Forschung sie ihre Daten zur Verfügung stellen und Forschungsprojekte müssen sich entsprechend gesellschaftlich rechtfertigen.

Obwohl man schon lange weiß, dass Gesundheit dramatisch von den sozialen Verhältnissen beeinflusst wird – und die Pandemie dies erneut in erschreckendem Ausmaß vor Augen führt – , liegt der Herangehensweise ein technisch-instrumentelles Verständnis von Gesundheit zugrunde.

Elektronische Patientenakte

Bemängelt wird zudem, dass die bisherige Konzeption der elektronischen Patientenakte (ePA) mehrfache Opt-in-Verfahren vorsieht. Die Versicherten müssen in unterschiedlichen Kontexten jeweils selbständig die Entscheidung treffen, ob sie der Einrichtung einer elektronischen Patientenakte zustimmen, welche Ärzt:innen welche Daten speichern sollen und wem diese Informationen zugänglich sein sollen. Stattdessen fordert der Sachverständigenrat, dass eine „ePA für jede Person (mit Geburt oder Zuzug) eingerichtet und damit zugleich der Zugriff auf ePA-Daten – die Einsichtnahme, Speicherung von Informationen und Verarbeitung – durch behandelnde Leistungserbringer ermöglicht werden.“ Falls dies gerade gesellschaftlich nicht durchzusetzen sei, dürfte allenfalls ein Opt-out-Verfahren eingerichtet werden, das es den informierten Versicherten ermöglichen würde, diesem Verfahren zu widersprechen.

Die Grundanlage der elektronischen Gesundheitskarte und der ePA werden vom Sachverständigenrat infrage gestellt. Geworben wurde immer damit, dass die Patient:innen stärker die Herrschaft über ihre Daten übernehmen können sollten.  Nach dem Patientendaten-Schutzgesetz sind sie diejenigen, die, falls sie sich für eine ePA entscheiden, darüber immer neu konkret befinden, welche Daten aufgenommen werden. Sie sollen entscheiden können, wer welche Informationen sehen kann und auch einzelne Dokumente löschen. Nun ist schon lange auch ersichtlich, dass dies dazu führt, dass Ärzt:innen sich nicht auf solche Akten verlassen können, sondern weiterhin ihre eigenen Akten führen müssen. Der Sachverständigenrat will nun letztlich eine ePA in Händen der Leistungserbringer, bei der Patient:innen als Anhängsel noch die Daten lesen dürfen, die dafür benutzt werden können, sie unter Druck zu setzen. So fordern sie auch, dass jeder Arzt zumindest sehen muss, dass Patient:innen Informationen „verschattet“ haben, um dies im Behandlungsgespräch thematisieren zu können. Das zeugt auch von wenig Verständnis für das notwendige Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient.

Versorgungsdaten

Nicht nur die Daten aus der ePA sollen der Forschung und dem Gesundheitsmanagement ungehindert zur Verfügung stehen, sondern auch die Versorgungsdaten sollen möglichst auf einer gesetzlichen Grundlage ohne Entscheidungsbefugnis der Bürger:innen zentral gesammelt werden. „Um diesen individuellen und kollektiven Nutzen zu ermöglichen, sollte geprüft werden, ob für Versorgungsdaten auf Basis von Artikel 9 Abs. 2 Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) eine gesetzliche Befugnisnorm zur Verarbeitung ohne Zustimmungserfordernis geschaffen werden kann.“

Schon das Digitale-Versorgung-Gesetz von Ende 2019 führte den Zwang ein, alle Abrechnungsdaten der kassenärztlichen Vereinigung an das Forschungsdatenzentrum weiterzugeben. Ein Opt-Out-verfahren ist hier nicht vorgesehen, alle Daten der gesetzlich Versicherten werden zwangsweise genutzt. Das soll zum Vorbild werden, um noch viel mehr Daten zwangsweise zu sammeln.

Letztlich geht es um ökonomische Verwertung von Gesundheitsdaten. Der Streit um Forschung und um die dieser zugrundeliegenden Wertsetzung und Orientierung wird außer Acht gelassen und im Interesse der Forschungsgemeinschaft so getan, als ob diese immer gut und dem Wohle der Allgemeinheit diene. Explizit sollen Daten auch der Wirtschaft zur Verfügung gestellt worden, obwohl auch diese Abgrenzung nur begrenzt haltbar ist. „Da für Patientinnen und Patienten potenziell nutzenstiftende Forschung nicht ausschließlich durch nichtkommerzielle Akteure geleistet werden kann, sollten Regelungen geschaffen werden, die forschenden Unternehmen aus dem Bereich Pharmazie, Medizintechnik und Gesundheits-IT unter gewissen Voraussetzungen den Zugang  zu Gesundheitsdaten ermöglicht.“

Das Gutachten wird am 17. Juni 2021 im Rahmen eines Symposiums mit der Fachöffentlichkeit diskutiert werden. Es ist zu hoffen, dass eine lebhafte gesellschaftliche Diskussion entsteht und sich zu diesen und vielen weiteren Aspekten des Gutachtens viele äußern.

 

Elke Steven

Elke Steven, Soziologin, Dr. phil., Berlin, hat von 1994 bis 2017 im Komitee für Grundrechte und Demokratie als Referentin gearbeitet. Vom 1. Mai 2018 bis 31. Dezember 2020 war sie Geschäftsführerin des gemeinnützigen Vereins Digitale Gesellschaft. Elke Steven ist erreichbar über elke.steven@posteo.de.

 

[1] Alex Demirović: Solidarität – Die vernachlässigte Norm, In: Zeitschrift Luxemburg, Heft 6, 4/2010

 

*) Elke Steven hat dieses Thema am 28.10.2021 auch im Rahmen eines Online-Vortrags zum Gutachten des Gesundheitsausschusses in der “Veranstaltungsreihe zur digitalen Transformation des Gesundheitswesens” behandelt.
Der Vortrag ist hier online zu sehen bzw. auf diesem Kanal
gelistet.

Bildquellen

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