Pazifismus *)
Öffentlich abgegebene Stellungnahmen haben einen Inhalt und sie haben eine Funktion. Es lohnt sich, stets beides zu bedenken. Denn vor allem in zugespitzter Situation lässt sich der Inhalt erst aus der Funktion heraus richtig deuten. Wer öffentlich redet, weiß das und wird es kalkulieren. Anders ausgedrückt: Es kommt auf das Vorzeichen vor der Klammer an.
Vor diesem Hintergrund müssen die Stellungnahmen aus dem kirchlichem Raum betrachtet werden, in denen der Entscheidung der deutschen Regierung, den „war on terror“ im Nahen Osten militärisch zu unterstützen, zugestimmt wird. Denn nur auf diese Zustimmung kommt es an, das ist die Funktion, das Vorzeichen vor der Klammer. Alles andere, die wortreichen Erklärungen, der Verweis auf die eigene argumentative Not, unterstreicht das nur und soll die Entscheidung als besonders sattelfest ausweisen: Gerade wir, die wir eigentlich dagegen sind, können nicht anders, als jetzt dafür zu sein. Das ist im Kern die Argumentation, mit der Ende der 90er Jahre die Schröder-Fischer-Regierung Deutschland erstmals nach 1945 in einen zudem völkerrechtswidrigen Krieg führte. Der öffentlich zum Ausdruck gebrachte Skrupel ist wesentlicher Teil der Zustimmung.
Deshalb müssen Erklärungen wie die „friedensethische Stellungnahme des Rates der EKD“ (September 2014) ernst genommen und kritisiert werden. Denn sie verschaffen den machtpolitischen Ambitionen deutscher Politik eine zusätzliche Legitimation. Die „modernen“ Kriege werden nicht unter offener Bekundung imperialer Interessen begründet. Entsprechend werden sie auch nicht von bellizistischem Tonfall begleitet. Schon deshalb braucht es keine Waffensegnungen mehr. Aber das macht es nicht besser, im Gegenteil. Denn die Verklärung der Kriegsgründe – es gehe um den Schutz der Zivilbevölkerung, um Menschenrechte oder die Wahrung von Sicherheit und Ordnung – verfängt. Gerade in der Außenpolitik von Staaten geht es aber im Wesentlichen nur um Interessen und Macht. Wer die Reden deutscher Politiker auf der letzten Münchner Sicherheitskonferenz einmal liest, wird das bestätigt sehen. Menschenrechte, Frieden, die Interessen anderer spielten und spielen nur dann und solange eine Rolle, wie sie ins je eigene staatliche Machtkalkül passen. Es ist fatal, wenn diese Politik aus der Kirche heraus öffentlich unterstützt wird. Im Übrigen: Um sich diesem Duktus zu verweigern, muss niemand Pazifist sein. Gleichwohl werden Einwände gegen die deutsche Militärpolitik zunehmend mit Diffamierungen des Pazifismus als naiv, dumm und feige ins Abseits gerückt.
Darum lohnt auch ein Blick in die Klammer und auf die Frage, ob Kriege zu rechtfertigen sind. Ich bin früher kein Pazifist gewesen. Auch wenn mich Gewalt meist abgeschreckt, nie angezogen hat, habe ich Befreiungskämpfe wie die des ANC in Südafrika oder Guerillakriege etwa in Mittelamerika gutheißen können. Auch wenn es gute Gründe dafür gab und es auch heute Situationen gibt, in denen es ähnlich gute Gründe dafür geben wird, tue ich das heute nicht mehr. In der Auseinandersetzung zwischen Berrigan und Cardenal Ende der 70er-Jahre um die Rechtfertigung der sandinistischen Militärpolitik sah ich damals auf hohem Niveau die Eckpfeiler für meine eigene Haltung gesetzt. Beide haben in der Auseinandersetzung deutlich gemacht, dass sie ihre eigene Entscheidung nicht für widerspruchsfrei halten. Klar war beiden aber auch, dass es im Zentrum der Auseinandersetzung um ein zentrales Gut geht, das nicht nach Belieben argumentativ mal so mal so verwendet werden kann.
Dieses zentrale Gut, dieser Kern besteht in der Erkenntnis und in dem Glauben daran, dass „Leben“ (anthropozentrisch gedacht: der Mensch) nicht verzweckt gedacht werden darf und dass wir Menschen uns gegenseitig darin unterstützen müssen, uns nicht verzwecken zu lassen. Das ist der ethische und gleichzeitig der politisch relevante menschenrechtliche Kern des Pazifismus und meiner Überzeugung nach auch das Zentrum des biblischen Verständnisses vom Menschen. Dieser Kern sperrt sich aus sich selbst heraus gegen jede Relativierung, weil er nur radikal gedacht produktiv ist. So ist das biblische Liebesgebot der radikal, also von der Wurzel her gedachte Gegenentwurf zum sicherheitsorientierten „Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst“. Denn es setzt einerseits geradezu voraus, dass es Feindschaft gibt und damit auch Feinde, verweist aber andererseits darauf, dass Feindschaft unter Menschen nicht durch Fixierung auf die Verfeindung überwunden werden kann, sondern nur durch die Verweigerung der Feindes- und damit der potenziellen Vernichtungslogik. Es geht um den bewussten Verzicht darauf, den Feind zu verteufeln, ihn seiner menschlichen Züge zu berauben, der entlastenden Projektion der eigenen Angst vor der Erkenntnis, wozu Menschen, auch ich selbst, an Unmenschlichem in der Lage bin, zu folgen. Nur so können Bedingungen entstehen, die es unwahrscheinlich machen, dass Menschen am Entsetzen anderer Befriedigung erfahren. Und nur so kann illusionslos gesehen werden, dass Menschen im Krieg Verfügungsmassen fremder Interessen sind. Nur so übrigens wird auch die Banalität des Bösen rechtzeitig erkenn- und bekämpfbar. Das gilt – und niemand hat je versprochen, dass das leicht ist – gerade im Angesicht der Feinde. Insofern ist der Pazifismus weniger eine Lehre als vielmehr eine Haltung. Niemand wird als Pazifist geboren, aber es gibt Menschen, die zu Pazifisten werden. Genau deshalb ist der Pazifismus keine Schönwettertheorie, der man, solange es irgendwie geht, folgt, die aber, wenn’s ungemütlich wird, schadlos eingeschränkt werden kann. Und er ist deshalb auch keine Gesinnungsethik, der bedeutungsschwer die Verantwortung im real existierenden Politikerleben gegenübergestellt werden kann. Pazifismus ist Realpolitik, in der die utopische Dimension mitgedacht wird. Pazifismus und Utopie sind untrennbar verbunden, aber nicht in Wolkenkuckucksheim, sondern manifest im Hier und Jetzt. Das Ziel, das erreicht werden soll, bedarf utopischer und realpolitischer Beschreibung zugleich. Dazu braucht es analytische Schärfe, Mut zur Utopie und Beharrlichkeit im gewaltfreien Umgang mit den Gegenkräften. Deshalb ist Pazifismus immer aktiv streitbar.
Die Vernunft, auch die historische, gibt dieser radikalen Perspektive Recht: Gewalt gebiert Gewalt. Es ist ein Leichtes (wie es auch jetzt gang und gäbe ist), dem Pazifismus höhnisch seine Machtlosigkeit vor Panzern, Maschinengewehren und Macheten vorzuhalten. Aber gibt es eigentlich eine Erfolgsbilanz militärischer Logik? Der kriegerische Reigen von Vorkrieg – Kriegsvorbereitung – Krieg – und wieder Vorkrieg wird nicht durch Waffen und Krieg durchbrochen, mögen die Waffen auch noch so gerechtfertigt eingesetzt werden. Dabei sollte dem Verweis auf eine „ultima ratio“ äußerst skeptisch begegnet werden. „Ultima ratio“ ist schon von seiner Begrifflichkeit her Ausdruck und Instrument herrschaftlicher Interessen („Ultima ratio regum“ stand im 30-jährigen Krieg als Inschrift auf den Geschützrohren und wurde später vom Preußenkönig Friedrich II. übernommen) und nur so als „Vernunft“ ausgewiesen. Sie diente noch nie der Suche nach einer friedlichen Konfliktlösung und sollte deshalb auch nicht übernommen werden. Dass diejenigen, die sich auf die „ultima ratio“ berufen, sich noch nicht einmal an die Kriterien halten, die sie selbst dafür angeben, ist deshalb konsequent.
Zudem: Kriege werden mit den Waffen geführt, die vor Kriegsausbruch geliefert wurden. Das galt schon immer, aber seit etwa 20 Jahren mit neuen Begleiterscheinungen. Denn die neoliberale Globalisierung beförderte den mörderischen Prozess des Nationalismus, der Auflösung von Gesellschaftlichkeit und Staatlichkeit und damit die Dynamik militärisch ausgetragener Konflikte. Dabei entstanden und entstehen Soldatesken in ganz neuem Ausmaß, stets gut ausgerüstet mit Waffen, auch aus Deutschland. Die alten Mächte setzen demgegenüber alles daran, ihr Weltordnungsprinzip als Garant für ihr Konzept von Globalisierung aufrecht zu erhalten. So wurde in Deutschland seit den 90er Jahren Militarisierung als Instrument geostrategischer Außenpolitik etabliert. „Das Ordnungsgefüge erhalten“, so nennt das der Bundespräsident.
Diese Logik ist konsistent, auch in ihrer militärischen Perspektive. Wer ihr – aus welchen Gründen auch immer – folgt, findet den politischen Absprung nicht mehr und wird Teil dieser Logik. Dabei ist der Verweis auf die besondere Brutalität des Kriegsgegners und die zivilen Opfer naiv und dient der (Selbst-)Rechtfertigung. Denn der Unterschied zu früheren Szenarien besteht im Wesentlichen darin, dass der aktuelle Kriegsgegner beides nicht wie üblich verschweigt, sondern als Werbeinstrument nutzt. Alle Seiten verstehen sich bestens auf den „information warfare“, so ist grundsätzlich keiner „Information“ zu trauen. In Deutschland könnte dazu die Lehre aus dem ersten Krieg gezogen werden, der unter Verweis auf die Menschenrechte geführt wurde: Wenn es vorher Gründe für den im März 1999 begonnenen Kosovo-Krieg gegeben hätte – in seiner unmittelbaren Nachkriegszeit wären sie widerlegt worden.
Deshalb gilt: Wenn das Nein-Sagen nicht gelingt, wird es auf dem bisherigen Weg weitergehen. Es geht also weniger um grundsätzliche Wahrheitsfragen als um politische Weichenstellung. Frieden muss sich entwickeln. Frieden kann nicht in dem Sinne „gemacht“ werden, wie Kriegsgegner sich erschießen. Frieden – so eine wesentliche pazifistische Erfahrung – erfordert die langfristige Perspektive, an deren Anfang eine Weichenstellung steht. Diese erfordert ein radikales Nein. Schon ein „Nein, aber“ wird keine produktive Wirkung entfalten. Aus einem Nein ergäben sich zudem unmittelbar andere realpolitische Schritte als Waffenlieferungen: eine Vervielfachung humanitärer Hilfe, eine Ausweitung der Aufnahme von Flüchtlingen, ein entschiedener Protest gegen Rüstungsexporte aus Deutschland und die Unterstützung von friedensfähigen Menschen und Kräften in den Kriegsregionen.
Vor diesem Hintergrund halte ich die kirchenleitende Zustimmung zur deutschen Politik für fatal. Einen Krieg beenden zu wollen, indem man ihn durch Waffenlieferungen befeuert, stellt die Weichen in die falsche Richtung. Sie entfaltet ihre Wirkung nicht in den formulierten Bedenken, sondern in der Unterstützung der Regierungspolitik. Man fragt sich, warum kirchenleitende Personen und Gremien in einer Zeit, in der das Mobilisierungspotenzial auch christlicher Utopien ohnehin gering ist, diese an einem derart wichtigen Punkt einfach preisgeben. Ich kann es mir nur so erklären: Sie selbst halten diese Utopien für nicht (mehr) produktiv und tauglich.
*) Überarbeitete Fassung eines Vortrags, den der Autor in Rahmen eines Seminars der Ev. Akademie der Nordkirche/Arbeitsbereich Erinnerungskultur über das friedenspolitische Engagement von Dorothee Sölle am 27.9.2014 gehalten hat. Hier als pdf.
Bildquellen
- zorro4_pistol-gcaadd1b21_1920: zorro4_by pixabay
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