Verführerisches Pathos
Nach dem Anschlag auf einen jungen Mann mit Kippa vor der Hamburger Synagoge am 4.10.2020 gab es viele Reaktionen aus Politik und Gesellschaft. Der Mordversuch sei „feige“, abscheulich“, „widerlich“. Gegen diesen „widerlichen Antisemitismus“ müssen „wir alle“ zusammenstehen, „die gesamte Gesellschaft“ müsse Solidarität zeigen, Sicherheitsmaßnahmen erhöhen. Vor der Synagoge wurden Blumen niedergelegt und Kerzen angezündet. Auf einem kleinen Plakat steht: „Antisemitismus hat hier keinen Platz.“ Spätestens bei diesem Satz sollten wir innehalten und noch einmal nachdenken, denn er stimmt nicht. Es wäre gut, wenn es so wäre – und vermutlich ist er auch genauso gemeint, aber Fakt ist: Antisemitismus hat in unserer Gesellschaft seinen Platz, auch hier. Und es wäre gut, wenn aus diesem Anlass die Autor*innen der Solidaritätsbekundungen nicht so schnell „uns alle“ und „die gesamte Gesellschaft“ in den Blick nähmen, sondern zunächst ihren je eigenen Verantwortungsbereich. Aber das Pathos der großen Worte verdunkelt diese selbstkritisch-nüchterne Perspektive auf den eigenen Nahbereich – und vielleicht ist genau das seine Funktion, die Wirkung ist es allemal. Das ist nicht nur unangemessen, sondern auch gefährlich. Als erste hat Erica Zingher in einem lesenswerten Kommentar in der taz darauf hingewiesen, danach manch andere, eindrücklich auch Chajm Guski in einem Interview mit dem Deutschlandradio . Heute (9.10.) thematisiert auch die elbvertiefung der ZEIT die Diskrepanz zwischen der ersten empathischen Entrüstung und dem wenige Stunden später einsetzenden Schweigen danach. Es gibt keine einfachen Antworten auf die Fragen, die sich damit auftun, aber es wäre gut, es entstünde ein Raum zum Nachdenken. Dazu einige Schlaglichter und Fragen:
Wenn sich das Bürgertum der vom Antisemitismus ausgehenden Gefahr bewusst sein soll, wie kann es dann sein, dass in Hamburg gleich zwei Mal an einem 27.1., dem Tag der Befreiung des KZ Auschwitz, zu großen Partys eingeladen wurde: Im großen Stil im Januar 2018 zum Presseball im Hotel Atlantic, einem gesellschaftlichen Großereignis mit 800 Gästen, und zwei Jahre später im kleineren Rahmen vom SPD-Kultursenator in einen Hamburger Jazzclub? Warum war nach Protesten, 2018 auch aus dem Kreis der jüdischen Gemeinde, keine Bereitschaft vorhanden, diese Events auf einen anderen Tag zu legen? Gedankenlosigkeit? Zynismus? Hier hätte man sich nur ein wenig von der Solidarität gewünscht, die jetzt sehr allgemein zum Ausdruck gebracht wurde, dafür aber konkret. Stattdessen: „Wir haben unterschätzt, dass die Sensibilität für dieses Thema gestiegen ist“, so der Veranstalter des Presseballs. Sie wussten also schon, was sie an diesem Tag taten.
Warum sind in dem Hauruck-Verfahren, in dem die Bürgerschaft mit großer Zustimmung auch der evangelischen Kirche den 31.10. als „Tag der Reformation“ zu einem Feiertag in Hamburg und den Nachbarländern gemacht hat, alle Versuche, aus diesem Anlass Alternativen zu bedenken, die nicht mit dem Antisemitismus Martin Luthers belastet sind, ignoriert worden? Auch hier nur Gedankenlosigkeit? Warum hat die evangelische Kirche nicht aus eigenem Antrieb heraus diesen Aspekt thematisiert und problematisiert? Spätestens nachdem Michel Fürst als Vorsitzender des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen von einer „nicht hinnehmbaren Desavouierung der jüdischen Glaubensgemeinschaft“ sprach, wäre das notwendig gewesen.
Warum tat und tut sich die evangelische Kirche so anhaltend schwer mit der Bitte, sich auch durch eine Abnahme der „Luthersau“ von der Wittenberger Stadtkirche ihrer antisemitischen Traditionslinie zu stellen? Aus mangelnder Einsicht? (Link zum Artikel in diesem Blog)
Eine jeweils offene und selbstkritische Arbeit an diesen und weiteren Fragen wäre geeignet, das Pathos der eigenen Worte daraufhin zu befragen, wo es von einem selbst gedeckt ist. Oder andersherum betrachtet: Welche offenen Flanken hinsichtlich der eigenen Unklarheit in der Abwehr des Antisemitismus werden hinter dem Pathos versteckt? Ein kleines sprachliches Missgeschick der Hamburger Bischöfin mag das deutlich machen: Am Tag nach dem Anschlag in Hamburg sagt sie dem ndr: „Es braucht die gesamte Gesellschaft, die diese mörderische Form von Antisemitismus verurteilt.“ Nur diese mörderische Form? Natürlich hat sie nicht das gemeint, was sich mit dieser Frage auftut. Aber diese Formulierung spiegelt ungewollt eine weit verbreitete Unschärfe. Und die ist gefährlich, denn klar ist: Für die Abwehr der Kritik – z.B. an den besagten Feiern am 27.1., an dem Beschluss zum 31.10. und am Verbleib der Luthersau an den Kirchenmauern – gab es stillen und lauten Beifall von denen, die dem Antisemitismus Raum geben. Deshalb ist es falsch zu suggerieren, dass der Antisemitismus „hier“ keinen Platz habe. Diese unreflektierte Selbstvergewisserung, wir seien schon die Guten und das reiche, trifft nicht zu und wird deshalb zum Nährboden für Antisemitismus.
Ein wichtiger Blogeintrag zu einem aktuellen Problem!
Dass Antisemitismus leider ein Platz in der Gesellschaft eingeräumt wird, sieht man u.a. auch an der Duldung von Holocaustleugnungen auf Social Media Plattformen, wie Facebook. Hierzu ist gestern ein aktueller Kommentar von Simon Hurtz in der Süddeutschen Zeitung erschienen („Judenhass auf Facebook: Keine Plattform für Antisemiten zu sein, reicht nicht“), der das überfällige Verbot von Holocaustleugnungen auf Facebook aufgreift: https://www.sueddeutsche.de/digital/facebook-holocaustleugnung-mark-zuckerberg-1.5065453