Der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion: Das protestantische Gedächtnis hat bemerkenswerte Lücken

Der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion: Das protestantische Gedächtnis hat bemerkenswerte Lücken

Weithin blieb der 80. Jahrestag des deutschen Angriffs auf die UDSSR am 22.Juni 1941 in den Gemeinden, Kirchenkreisen und anderen kirchlichen Einrichtungen unbeachtet. Vor allem Desinteresse bestimmte die Erinnerung an den Beginn des deutschen Vernichtungskrieges gegen den „slawischen“ Osten mit seinen mindestens 30 Millionen Opfern. Vordergründig anders sah es bei den Äußerungen kirchlicher Repräsentanten aus, die auf der Website der EKD dokumentiert werden.[1] Von Trauer, Entsetzen und Scham ist da die Rede und von der „Schuld und historische(n) Verantwortung, die wir als Angehörige des deutschen Volkes … tragen“. So der Ratsvorsitzende der EKD, Bischof Bedford-Strohm in einem Brief an den russisch-orthodoxen Metropoliten Hilarion. Die Formulierungen klingen routiniert, sind auch ganz ähnlich und regelmäßig bei anderen Erinnerungstagen wie dem 27. Januar (1945 Befreiung von Auschwitz) oder dem 9.November (Reichspogromnacht 1938) zu hören.

So weit, so pathetisch. Denn interessant wird es bei der Frage, ob und wie die konkrete Mitverantwortung der deutschen Kirchen für dieses Menschheitsverbrechen benannt wird. Da ist dann von vielen „fehlgeleiteten Vertretern der Evangelischen Kirche“ die Rede. Der Berliner Bischof Stäblein erinnerte an „die Verstrickungen der Kirche und einzelner (!) Pfarrer in das Kriegsgeschehen“.

Dass 1941 nahezu alle Strömungen der evangelischen Kirche den deutschen
Überfall auf die Sowjetunion mehr oder weniger begeistert begrüßt und „theologisch“ gerechtfertigt hatten, wird verschwiegen. Namen von Bischöfen und Professoren wie Paul Althaus, August Marahrens, Hanns Lilje, die auch nach 1945 hoch angesehen waren, kommen im öffentlichen Gedächtnis nicht vor. Konkret erinnert wird von Bischof Stäblein nur an unbekannte Wehrmachtspfarrer wie Walter Hoff, die an der Idee und Sinnstiftung des Vernichtungskrieges als “Freiheits- und Überlebenskampf” mitgewirkt hätten.[2] Wie breit, kreativ und engagiert sich die kirchliche Unterstützung für den Vernichtungskrieg gestaltete, kommt auf evangelisch.de, der offiziellen Website der EKD einfach nicht vor.

EKD präsentiert schamlosen Wehrmachtspfarrer

Diese bemerkenswerte Gedächtnislücke wird auf evangelisch.de allerdings gefüllt mit „überraschenden Einblicken in den Alltag der Frontsoldaten des Zweiten Weltkriegs“ aus dem Tagebuch des evangelischen BK-Pfarrers Manfred Wintzer, der von 1939 bis 1945 als Divisionspfarrer wirkte[3]. In den wiedergegebenen Passagen finden die Grauen des Krieges, die Massenmord-Beteiligungen der Wehrmacht, das bewusste Verhungernlassen von sowjetischen Kriegsgefangenen keine Erwähnung. Stattdessen erzählt der Militärpfarrer von Instandsetzungen und Gottesdiensten in zuvor von den Sowjets profanisierten Kirchen, offenbar eine gute Seite des Krieges. Darum klagt er auch über Hitlers Befehl, diese Aktivitäten einzustellen: “Wir haben uns damit das große Vertrauen der Russen, das sie uns entgegenbrachten, verscherzt”. Aber noch mehr zu schaffen machten ihm die Hinrichtungen wegen Fahnenflucht: „Mein schwerster Dienst war, bei der Erschießung von Kameraden teilzunehmen“. Aber es gab auch skurrile Ereignisse für den Militärpfarrer Wintzer, weiß evangelisch.de zu berichten: „So etwa entdeckte seine Truppe in Pleskau in als Lager missbrauchten Gotteshäusern drei Millionen Eier. “Jeder Soldat bekommt am Abend vier gekochte Eier”, hält er fest, und auch noch: “Hoffmann von der Registratur hat ein 700-Liter-Fass mit Rotwein erbeutet.” Wohlgemerkt: Dieser ebenso erschreckende wie aufschlussreiche Einblick in das Denken und Agieren eines Pastors der Wehrmacht findet sich ohne jeden kritischen Kommentar und völlig distanzlos auf der offiziellen Website der EKD. Keine Spur von Schuld, Trauer und Scham, stattdessen Selbstmitleid und Landser-Storys.

Ein Mantel des Schweigens über kirchliche Unterstützung für Kriegsverbrecher nach 1945

Im letzten Jahrzehnt ist durch Forschung und Aufklärung bekannt, dass die Kirchen trotz halbherziger Schuldbekenntnisse sowohl die Kriegsverbrecher aus den eigenen Reihen wie auch andere Kriegsverbrecher geschützt und oft unterstützt hat.[4] Das reichte von den berüchtigten Persilscheinen über die Einstellung von an Verbrechen beteiligten Kirchenleuten bis zum Einsatz auch finanzieller Mittel für inhaftierte Kriegsverbrecher in Holland und Italien. Breitenwirksam war vor allem die kirchliche Trägerschaft oder Mitbeteiligung am Volkstrauertag, an dem unterschiedslos die getöteten Soldaten, SS eingeschlossen, als Opfer beklagt und gewürdigt wurden.

Über all das wird in den kirchenoffiziellen Verlautbarungen zum 80.Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion ein Mantel des Schweigens ausgebreitet. Verdrängung, Amnesie, Harmoniebedürfnis, Gedächtnisverlust? Eine gesamtkirchliche Erforschung und Dokumentation dieser „Zweiten Schuld“ ist geboten und die Voraussetzung dafür, dass die Kirchen glaubwürdig von Entsetzen, Schuld und Scham reden können.

Kirchen im Dienste des Krieges – Eine Buchempfehlung

Die offensichtlich notwendige Aufklärung bietet und fordert ein neues Buch, das einen realistischen Einblick gibt in die tatsächliche, vor allem „theologisch“-propagandistische Unterstützung der evangelischen Kirchen für den Vernichtungskrieg gegen die UDSSR, den „jüdischen Bolschewismus“. In 80 Originalquellen wird die ganze Breite kirchlicher Unterwürfigkeit unter die Kriegs-Ziele des Nazi-Staates dokumentiert.

„Die deutsche Evangelische Kirche und der Russlandfeldzug“ von Dietrich Kuessner ist kein historisch- wissenschaftliches Werk, sondern will eine Arbeitshilfe sein und wird diesem Anspruch auch mehr als gerecht, fördert und fordert es doch die auch in den Kirchen ungeliebte Arbeit der Auseinandersetzung mit den kirchlichen und theologischen „Vätern“.

Der einleitende und gut zu lesende Beitrag von Dietrich Kuessner gibt unter verschiedenen Fragestellungen eine Einführung in die zahlreichen Dokumente. Nach einer kurzen Darstellung der generellen Haltung der Kirchen in ihrer Zustimmung zur Regierung Hitler folgen u.a. Abschnitte über kirchliche Kundgebungen und Telegramme zu Beginn des Russlandfeldzugs, Predigten an der Front und in der Heimat, den Komplex von Traueranzeigen, Orden und Ehrentafeln und schließlich die Einführung von Gefallenen-Gedächtnisgottesdiensten. Auch die deutsche Niederlage vor Stalingrad ändert an dieser vielfältigen kirchlichen Kriegsunterstützung wenig. Eine theologische Grundlegung für diese Haltung sieht Kuessner in der berühmt-berüchtigten Schrift „Der Krieg als geistige Leistung“ von Hans Lilje, damals Generalsekretär des Lutherischen Weltkonventes, mit der er sich in einem Exkurs ausführlich auseinandersetzt. Lilje 1941: „Mit Gott! Nur im Namen Gottes kann man dies Opfer legitimieren.“ Es war ein (gewiss interessengeleitetes) Verdienst der DDR-Aufklärung, diese Schrift wieder zugänglich zu machen, als Lilje zu einem prominenten Befürworter der westdeutschen Wiederaufrüstung avancierte. Spannend ist der kleine Abschnitt über die Russisch-Orthodoxe Kirche, die sich trotz ihrer brutalen Verfolgung durch Stalin angesichts des deutschen Krieges mit ihrem bisherigen Todfeind zusammentat. Dietrich Kuessner dokumentiert und erläutert aber auch „Gegenströmungen und Lichtblicke“, die zeigen, dass inmitten des politischen und kirchlichen Kriegsgetaumels auch ein klarer Blick und manchmal sogar klares Handeln möglich war.

Dem freien Theologen und Historiker Peter Bürger kommt das Verdienst zu, diese bedeutende „Arbeitshilfe“ 30 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen wieder entdeckt und uns mit seiner Neuedition zugänglich gemacht zu haben.  Und weil ihm an einer demokratischen Form der Geschichtsvermittlung liegt, stellt er sie sogar als kostenlosen Download zu Verfügung. So lassen sich auch einzelne Dokumente zum Vervielfältigen herunterladen. Pastorinnen, Pastoren und Bischofskanzleien sei aber auch die Anschaffung empfohlen. Wer das Buch liest, wird nicht mehr von „Verstrickungen“ und (einzelnen) fehlgeleiteten Pastoren und Kirchenvertretern reden können.

Dietrich Kuessner

„Die deutsche Evangelische Kirche und der Russlandfeldzug“

„Edition Kirche & Weltkrieg“, Band 7, www.bod.de/buchshop/die-deutsche-evangelische-kirche-und-der-russlandfeldzug-dietrich-kuessner-9783752671094

 

[1] https://www.evangelisch.de/inhalte/187563/22-06-2021/bedford-strohm-benennt-versagen-der-kirche-bei-vernichtungskrieg?kamp=b-012 Wie konnte das passieren? Aus dem „Versagen im Vernichtungskrieg“ Bedford-Strohms wird ein doppeldeutiges „Versagen bei Vernichtungskrieg“.

[2] https://www.evangelisch.de/inhalte/187597/23-06-2021/kirchenvertreter-erinnern-deutschen-ueberfall-auf-sowjetunion-kuschnerus-staeblein

Luschigkeit oder Freud´scher Verschreiber?  Stäblein wird weiter so zitiert: “Das Bennen der Schuld der Kirche, zu der ein Pfarrer wie Walter Hoff gehört hat, gehört an diesen Tag.”

[3] https://www.evangelisch.de/inhalte/183007/27-02-2021/was-ein-divisionspfarrer-im-zweiten-weltkrieg-erlebte. Es ist möglich, dass der Wehrmachtspfarrer nachträglich sein Denken und Handeln bereut haben könnte. Aber bei der EKD ist davon nichts zu lesen.

[4] Für den Bereich der Nordkirche: https://www.nordkirche-nach45.de/ns-taeter-und-kriegsverbrecher-im-schutz-der-kirche.html.  Ausführlich in: Stephan Linck, „Neue Anfänge? Der Umgang der Kirche mit der NS-Vergangenheit“ Bd.1 Kiel 2013

 

Bildquellen

  • 2021-09-02 14_15_02-Die Deutsche Evangelische Kirche und der Russlandfeldzug: Cover des Bands im BoD-Verlag

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